In Japan ist die Schrumpfung der Wohnbevölkerung schon Realität. Auch bei uns wird es einmal so weit sein. Ein Bericht aus der Zukunft (Quelle TA):
Noch sind nicht alle Kisten ausgepackt, Osamu und Eiko Tanida haben ihr neues Haus am Ende der Welt eben erst bezogen. Aber die Lokalzeitung hat bereits über sie berichtet, und auf dem Küchentisch liegt ein Willkommensgruss des Städtchens.
Ein kalter Wind bläst Osamu staubfeinen Regen ins Gesicht, während der 73-jährige pensionierte Lehrer den ersten Grosseinkauf aus seinem Toyota Prius lädt, Säfte, Gemüse, eine Kiste Tomaten. Eiko füllt den Eisschrank zum ersten Mal. Es ist kalt, und das im Juli.
Shibetsu liegt am Ochotskischen Meer im äussersten Nordosten Japans. Von hier sind es nur 24 Kilometer nach Kunashir, eine der vier Kurileninseln, die Japan von Russland zurückfordert. Bei gutem Wetter sieht man hinüber, aber dieser Mittwoch kennt keinen Horizont, die Brandung rollt aus einem dicken Nebel heran. Japan hat Hokkaido gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Insel für Landwirtschaft, Fischerei und für den Bergbau kolonisiert. Und als Bollwerk gegen Russland. Ab 1869 suchten die Behörden von Hokkaido Siedler, die sich im wilden Norden Japans verdingen wollten.
Mit Fisch zu ein wenig Wohlstand
Es waren arme Schlucker, die damals kamen. Kinder darbender Bauern aus der kargen Provinz im Norden der Hauptinsel Honshu. Noch heute ducken sich hinter dem Schulhaus Reihen winziger Backsteinkaten. Sie suggerieren den Begriff Kleinhäusler geradezu.
Doch mit Molkerei-Produkten, Lachs, Forellen und Muscheln kamen sie zu etwas Wohlstand. Das sind bis heute die wichtigsten Produkte. Dazu im Sommer etwas Tourismus. Shibetsus Wirtschaft geht es gut, doch seine Bevölkerung schrumpft und überaltert - wie auch in weniger abgelegenen Orten Japans. Die Einwohnerzahl von einst über 8000 ist auf nun 5843 gesunken. Die Gruppe der 20-, 30-Jährigen, eigentlich die Generation der Zukunft, ist besonders klein.
Die Stadtväter halten 6000 Einwohner für eine Untergrenze: «Für weniger Menschen lä sst sich unsere Infrastruktur schwerlich aufrechterhalten», sagt Makoto Kawaguchi, der zuständige Abteilungsleiter auf dem Bürgermeisteramt: In Shibetsu gibt es ein Gymnasium, eine Kulturhalle, eine gute öffentliche Bibliothek und Sportanlagen, zu denen auch eine Eisschnelllaufbahn gehört.
Deshalb will Shibetsu, wie im 19. Jahrhundert ganz Hokkaido, Neusiedler anlocken. Dazu gibt das Städtchen umsonst Bauland ab. Anders als im übrigen Japan ist der Boden grade im Osten von Hokkaido billig; es gibt genug. Etwas ausserhalb im Grünen, an der Strasse vom Lachs-Museum nach Süden, unweit der Poliklinik, steht deshalb seit Herbst 2006 ein Schild: «Wenn Sie hier ein Haus bauen, erhalten Sie den Boden umsonst.»
Shibetsu gibt 28 Parzellen Bauland von etwa 400 Quadratmetern ab. Das Land ist erschlossen, die Zufahrtsstrasse gebaut; den Schätzwert der Parzellen beziffert das Städtchen mit 25 000 bis 30 000 Euro. Die einzige Bedingung: Die Leute müssen tatsächli ch hier wohnen, Ferienhäuser will man nicht. «Und es müssen mindestens Paare sein. Singles geben wir kein Land», so Kawaguchi. Ausländer wären im Prinzip willkommen, es haben sich aber bisher keine beworben.
Shibetsu erwartete einen Ansturm. Er blieb aus. In fast drei Jahren hat erst die Hälfte der Parzellen neue Besitzer gefunden. Sechs Häuser stehen bereits, auf der Parzelle C-9 des Ehepaares Takiuchi hat eben der Aushub begonnen. Auf den andern Flecken stehen gelbe Schilder mit den Nummern und auf jenen, die vergeben sind, auch die Namen der künftigen Bewohner.
Das frühere Haus doch noch behalten
Osamu Tanida bewarb sich als einer der Ersten. Er habe lange davon geträumt, nach Hokkaido zu ziehen, erzählt er. Jedes Jahr seien sie im Urlaub hergekommen. Dann las er in einem Wochenblatt von Shibetsus Landvergabe. Er erhielt die Parzelle C-4, sie liegt direkt am Waldrand. «Schon beim Frühstück können wir ins Grüne blicken», strahlt O samu. «Und diese Weite.» Er lacht: «In Osaka ist es heute über 30 Grad.» Seine Frau, eine Japanisch-Lehrerin im Ruhestand, war weniger begeistert. Aber sie schwärmt von der «Freundlichkeit und dem Vertrauen», mit denen Shibetsu sie aufgenommen habe. Und Bücher lektorieren, die Arbeit, die sie seit ihrer Pensionierung macht, kann sie überall. Ob die beiden auch in der sibirischen Kälte Shibetsus überwintern und Schnee schaufeln werden, wissen sie allerdings noch nicht. «Wir haben unser Haus in Osaka behalten», sagt Osamu. Zudem warten dort fünf Enkelkinder. Aber die werden sie hoffentlich besuchen. «Unser Hauptwohnsitz ist jetzt hier.» Der Flug ist zwar teuer, aber Osamu verlädt sein Auto auf die Fähre und fährt den Rest. Nur Eiko ist geflogen.
Auf der Stadtverwaltung weiss man um die Zweihäusigkeit der Tanidas: «Fifty-fifty reicht», sagt Kawaguchi. Zuerst profitiert das lokale Baugewerbe, dann der Handel, und Zuwanderer ziehen ja auch Gäste an. Kawaguchi ist zufrieden mit der Mischung von Zuwanderern, die sich bisher ergeben hat, Leuten aus Hokkaido und einer Familie aus Shibetsu selbst. Wenn alle 14 Häuser stehen, die bereits vergeben sind, wird Shibetsu 36 Einwohner mehr haben, darunter acht Kinder.
«Natürlich wäre es ideal, wir hätten für jede Parzelle eine Familien mit Kindern», sagt Kawaguchi. Aber das wäre angesichts der Demografie der japanischen Provinz eine Illusion. «Und wenn die Häuser erst stehen, bleiben sie ja auch, und das Städtchen ist etwas grösser.» Allerdings macht das Beispiel von Shibetsu Schule: Im Südwesten von Hokkaido, also zentraler gelegen, lockt das Dorf Yakumo Zuzüger inzwischen auch mit gratis Bauland an.